Universitätsklinik Köln empfiehlt in einem Gutachten Dronabinol zur Behandlung eines Patienten mit Friedreich’scher Ataxie

Unter dem Titel „Kasse zahlt nicht für Arznei“ berichtete der Kölner Stadtanzeiger am 20. Februar über einen Patienten mit starken chronischen Schmerzen und Krämpfen, die erst durch eine an der Universitätsklinik Köln eingeleitete Behandlung mit Dronabinol gelindert werden konnten.

„Kerpen – Nur mit Mühe kann Stephan Thielen einem die Hand geben, das Sprechen fällt ihm schwer, sein Zimmer im Elternhaus in Kerpen kann er aus eigener Kraft nicht verlassen: Meine Welt ist auf vier mal vier Meter begrenzt‘, erzählt der 32-jährige, der im Alter von zehn Jahren noch als Kind bei Blau-Weiß-Kerpen Fußball spielte, bevor eine äußerst seltene, bislang unheilbare Krankheit ausbrach: ‚Friedreich’sche Ataxie mit Lähmungsskoliose‘ diagnostizierte eine Ärztin 1989 – eine fortschreitende neurologische Erkrankung, die der Multiplen Sklerose ähnlich ist, zu Lähmungserscheinungen, spastischen Anfällen und zeitweiser Blindheit führt.
‚Ich habe ständig Schmerzen‘, erzählt Thielen, an dessen Rückgrat Titanstäbe zur Aufrichtung der Wirbelsäule implantiert sind. ‚Kribbelparästhesien, extreme Berührungsempfindlichkeit, bis zu dreimal die Woche attackenweise krampfartige Schmerzen im Bereich der Oberschenkel-Rückseiten und in beiden Armen, Kopfschmerzen, Licht- und Lärmscheu‘, schrieb die Uniklinik Köln in einem Gutachten und stellte bei dem Patienten wegen der unerträglichen Schmerzen auch eine ‚deutliche Suizidgefahr‘ fest. Die im März 2005 begonnene ambulante Schmerztherapie konnte erst durch den Einsatz des Medikamentes Dronabinol ‚eine deutliche Zunahme der Lebensqualität durch die Abnahme der Krampfanfälle‘ bewirken, heißt es weiter in dem Gutachten.
Dronabinol wird aus Cannabisblüten hergestellt, aus denen auch Haschisch gewonnen wird. Es fällt unter das Betäubungsmittelgesetz und wirkt krampflösend und entspannend. Bei der Behandlung der Multiplen Sklerose und bei Aids-Patienten soll es ein bewährtes Medikament sein. Sein Nutzen bei der ‚Friedreich’schen Ataxie‘ aber ist nicht ausdrücklich wissenschaftlich erwiesen: ‚Bei der Seltenheit der Erkrankung ist auch nicht mit entsprechenden Studien zu rechnen‘, schreibt die Uniklinik. Demzufolge ist es in Deutschland umstritten, in welchen Fällen Dronabinol als Medikament von den Kassen finanziert werden muss. Da das Medikament relativ teuer ist und es eine Vielzahl von Schmerzpatienten gibt, geht es um viel Geld.
Die Deutsche Angestellten-Krankenkasse (DAK), bei der Stephan Thielen von Geburt an krankenversichert ist, lehnt es seit Anfang 2007 ab, die Kosten für Dronabinol zu übernehmen. Seitdem zahlt die Familie das Medikament, das sie als Rezeptur, also nicht als Fertigarzneimittel, von einem Kerpener Apotheker erhält, aus eigener Tasche: rund 430 Euro im Monat, insgesamt bislang 5580 Euro.
‚Auf die Dauer‘, so Vater Klaus Thielen, ‚können wir uns das aber nicht leisten.‘ Denn sein Sohn bekomme als finanzielle Unterstützung nur eine Grundsicherung in Höhe von 319 Euro im Monat. Der 62-jährige diplomierte wissenschaftliche Dokumentar ist früher in den Ruhestand gegangen, um Stephan pflegen zu können. Das Haus wurde auf eigene Kosten behindertengerecht umgebaut, mit Rampe zum Garten, Aufzug, verbreiterten Türen. Auch ein Auto mit herabfahrbarer Plattform hat sich Klaus Thielen angeschafft, um seinem Sohn wenigstens ab und zu eine Rundfahrt mit dem Wagen bieten zu können. ‚Auch da hat die Krankenkasse nichts dazugezahlt.‘ Ein weiterer Schicksalsschlag traf die Familie: Die Frau von Klaus Thielen ist an Parkinson erkrankt.
Trotz seiner schweren Erkrankung konnte Stephan Thielen im Fernstudium einen Abschluss als Diplom-Kaufmann machen, ohne allerdings eine entsprechende behindertengerechte Stelle zu finden. Sein Hobby sind Autos. ‚Ich bin ein Porsche-Narr.‘ Hunderte von Modell-Autos stehen in seinem Zimmer. ‚Einmal konnte ich sogar das Porsche-Werk in Stuttgart besichtigen.‘ Auch Vater Klaus Thielen will nicht verzweifeln: ‚Eigentlich hat man die Lebenserwartung für Stephan nur auf 25 Jahre geschätzt, nun sind uns schon sieben zusätzliche Jahre geschenkt worden.‘ Stephans behandelnder Arzt ist der Brühler Orthopäde Bernhard Ruping: Er empfiehlt ‚dringend, die in diesem Falle einzige erfolgreiche Therapie mit Dronabinol als Krankenkassenleistung anzuerkennen‘. Seinem Patienten und der Familie Thielen bescheinigt er ‚eine bewundernswerte Lebenseinstellung‘, mit der sie alle ‚Verschlechterungen und Einschränkungen‘ hinnähmen.
Dennoch hat der Medizinische Dienst der Krankenkasse einen Widerspruch der Familie gegen die Verweigerung von Dronabinol abgelehnt: Es lägen ‚keine aussagekräftigen Studien‘ vor, die den ‚Einsatz von Dronabinol in der Therapie des chronischen Schmerzes rechtfertigen‘. Auch scheiterte der Versuch, die Krankenkasse per einstweiliger Anordnung zu zwingen, die Kosten für Dronabinol zu übernehmen. Dies lehnte das Sozialgericht Köln im Dezember vergangenen Jahres ab, ohne Stephan Thielen selber zu Gesicht bekommen zu haben: Das Gericht beruft sich in seinem Beschluss auf vorangegangene Entscheidungen anderer Gerichte: Demnach sei es nicht möglich, ’neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden‘ zulasten der Krankenkassen abzurechnen, wenn deren diagnostischer und therapeutischer Nutzen nicht vom Gemeinsamen Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen anerkannt sei.
Im vorliegenden Fall sei auch keine Ausnahme möglich, da das Bundesverfassungsgericht dafür unter anderem folgende Bedingungen genannt habe: So müsse es zumindest Indizien geben, wonach die neuen Behandlungsmethoden für die Betroffenen eine ’spürbare positive‘ Wirkung hätten. Zusätzlich müsse es sich um ‚eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung‘ handeln. Letzteres aber sei bei Stephan Thielen nicht der Fall, meint das Gericht: Entscheidend sei hier, ‚ob sich die Gefahr eines tödlichen Krankheitsverlaufs schon in näherer oder erst in ganz ferner, noch nicht absehbarer Zeit zu konkretisieren droht und eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer im gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik‘ vorliege.
Für Klaus Thielen ist dies eine makabre Feststellung: Für das Gericht belege anscheinend ‚erst der Tod des Patienten einwandfrei, dass seine Krankheit tatsächlich lebensbedrohlich ist‘. Die Familie hat den Beschluss des Sozialgerichtes Köln angefochten. Nun muss das Landessozialgericht in Essen entscheiden.
Die DAK begründet ihre Haltung mit dem Hinweis auf die Rechtslage: Man ‚dürfe‘ keine Kosten für Medikamente übernehmen, denen die erforderliche deutsche und EU-weite Zulassung als verordnungsfähige Arznei fehle, sagt Pressesprecher Jörg Bodanowitz. Dronabinol habe lediglich eine Zulassung in den USA für AIDS- und für Krebs-Patienten. Zudem gebe es noch andere Möglichkeiten der Schmerzbehandlung, die im vorliegenden Fall ‚bislang nicht erschöpfend eingesetzt werden‘. Das Urteil des Sozialgerichtes Köln bestätige die Haltung des DAK – auch wenn es bislang ‚allerdings nicht rechtskräftig‘ sei.“

Der Artikel ist online verfügbar unter:

(Quelle: Kölner Stadtanzeiger vom 20. Februar 2008)

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