ACM-Mitteilungen vom 1. April 2023

Liebe Leserin, lieber Leser,

kürzlich wurden vom Bundessozialgericht die Entscheidungsgründe für ein Urteil des Ersten Senats vom 10.11.2022 veröffentlicht (Aktenzeichen: B 1 KR 28/21 R). Das Gericht stärkt die begründete Einschätzung des Arztes, der cannabisbasierte Medikamente zulasten der gesetzlichen Krankenkassen verschreiben möchte, stellt jedoch auch hohe Anforderungen an diese Einschätzung.

Professor Dr. jur. Oliver Tolmein ist in seinem Vortrag und der Diskussion zum Thema Kostenübernahme und Widerspruch im Rahmen der Fortbildungsveranstaltung der ACM am 25.3.2023 bereits auf diese Neuerungen eingegangen. Alle Videos der Vorträge (ohne die anschließende Diskussion) sind demnächst auf der ACM-Webseite zu sehen.

Der G-BA (Gemeinsame Bundesausschuss) hat nun auch die tragenden Gründe zum G-BA Beschluss vom 16. März 2023 zur Zukunft der Verschreibung von Cannabis-Arzneimitteln zulasten der GKV und die zusammenfassende Dokumentation mit den Stellungnahmen von Verbänden, inklusive der Stellungnahme der ACM veröffentlicht.

Ich habe eine wissenschaftliche Stellungnahme zu Behauptungen von einigen Krankenkassen und Institutionen, nach denen orale Cannabiszubereitungen aus medizinischen und ökonomischen Gründen der Inhalation von Cannabisblüten vorzuziehen sei, angefertigt und stelle sie online zur Verfügung.

Viel Spaß beim Lesen!

Franjo Grotenhermen

Bundessozialgericht klärt Anforderungen an die begründete Einschätzung bei einem Antrag auf eine Kostenübernahme für eine Cannabis-Therapie

Das Bundessozialgericht hat die Entscheidungsgründe für ein Urteil des Ersten Senats vom 10.11.2022 veröffentlicht (Aktenzeichen: B 1 KR 28/21 R). Das BSG stärkt darin die begründete Einschätzung des Arztes, der cannabisbasierte Medikamente nach § 31 Abs. 6 SGB V zulasten der gesetzlichen Krankenkassen verschreiben möchte, stellt jedoch auch hohe Anforderungen an diese Einschätzung, die im Urteil präzisiert werden. Einerseits reduziert das Urteil Unsicherheiten hinsichtlich der Anforderungen an einen Kostenübernahmeantrag. Andererseits wird auch deutlich, dass der Arbeitsaufwand für verschreibender Ärzte nicht unerheblich ist, um diesen Anforderungen genügen zu können.

Krankenversicherung – Arzneimittelversorgung – Cannabis

Verhandlungstermin10.11.2022

Streitig ist die Genehmigung der Versorgung mit getrockneten Cannabisblüten sowie die Kostenerstattung für selbst beschaffte Cannabisprodukte aufgrund privatärztlicher Verordnung.

Der 1979 geborene und bei der beklagten Krankenkasse versicherte Kläger beantragte im Mai 2017 bei dieser die Übernahme von medizinischen Cannabisprodukten wegen seiner Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Die Behandlung mit Medikinet Adult sei erfolglos gewesen und habe gravierende Nebenwirkungen gehabt. Die Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung ab, die medizinischen Voraussetzungen lägen nicht vor.

Das SG hat die Klage nach Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens abgewiesen. Beim Kläger liege ein langjähriges chronisches Abhängigkeitssyndrom von Cannabis vor, die Behandlungsmöglichkeiten seiner ADHS seien nicht ausgeschöpft und der medizinische Einsatz von Cannabis sei bei ihm kontraindiziert. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen, sich der Begründung des SG angeschlossen und ergänzt, als Voraussetzung für die Genehmigung einer Cannabistherapie müssten alle verfügbaren Therapiealternativen tatsächlich ausgeschöpft sein (Ultima-Ratio-Versorgung). Da die Beklagte die zu beachtenden Fristen eingehalten habe, lägen auch die Voraussetzungen für einen Kostenerstattungsanspruch kraft Genehmigungsfiktion nicht vor.

Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 31 Abs 6 SGB V.

Vorinstanzen

Sozialgericht Osnabrück – S 3 KR 355/17, 09.10.2019

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen – L 4 KR 490/19, 18.11.2020

Die Vorschau zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 43/22.

Terminbericht

Der Senat hat in vier Urteilen die Voraussetzungen der Genehmigung vertragsärztlicher Verordnungen von Cannabisblüten durch die Krankenkassen gemäß § 31 Abs 6 SGB V präzisiert:

  1. Für die Erteilung der Genehmigung einer Cannabis-Verordnung reicht es aus, dass der Vertragsarzt der Krankenkasse (KK) den Inhalt der geplanten Verordnung mitteilt oder der Versicherte der KK eine entsprechende Erklärung des Vertragsarztes übermittelt. Dazu gehört (§ 9 Abs 1 Nr 3-5 BtMVV) die Arzneimittelbezeichnung, die Verordnungsmenge und die Gebrauchsanweisung mit Einzel- und Tagesdosis und Anwendungsform. Die Vorlage einer vom Arzt bereits ausgestellten Verordnung ist nicht erforderlich. Die in § 31 Abs 6 Satz 2 SGB V vorgesehene Genehmigung bedeutet – abweichend vom sonst üblichen Weg der Versorgung mit Arzneimitteln – eine präventive Kontrolle der KK, ob die in Satz 1 benannten Voraussetzungen für einen Anspruch des Versicherten auf Versorgung mit Cannabis erfüllt sind. Diese Kontrollfunktion kann die KK auch ohne Vorlage einer Verordnung ausüben.

  2. Der Anspruch auf Versorgung mit Cannabis besteht nur zur Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung. Eine Erkrankung ist schwerwiegend, wenn sie lebensbedrohlich ist oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt.

Lebensqualität umschreibt das Vermögen, die Befriedigung von Grundbedürfnissen selbst zu gewährleisten, soziale Beziehungen einzugehen und aufrechtzuerhalten sowie am Erwerbs- und Gesellschaftsleben teilzunehmen. Die dauerhafte und nachhaltige Beeinträchtigung der Lebensqualität ergibt sich deshalb nicht allein aus einer ärztlich gestellten Diagnose. Entscheidend sind Funktionsstörungen und -verluste, Schmerzen, Schwäche und Hilfebedarf bei den Verrichtungen des täglichen Lebens, welche die Lebensqualität beeinträchtigen.

Die Auswirkungen der Krankheit mit den sich aus dieser ergebenden Beeinträchtigungen müssen sich durch ihre Schwere vom Durchschnitt der Erkrankungen abheben. Insoweit hält es der Senat für gerechtfertigt, sich an die Bewertung der Auswirkungen von Krankheiten in der Versorgungsmedizin-Verordnung anzulehnen (Teil 2 der Anlage zu § 2 VersMedV). Entsprechen die Auswirkungen nach der GdS-Tabelle bereits allein ohne Einbezug weiterer Erkrankungen einem GdS von 50, kann im Regelfall von einer schwerwiegenden Erkrankung ausgegangen werden. Dies ist weder im Sinne eines starren Grenzwertes zu verstehen, noch ist eine formelle Feststellung eines GdS oder GdB erforderlich, um einen Anspruch auf Versorgung mit Cannabis zu begründen.

Erreichen die Auswirkungen nicht die Schwere, die einem Einzel-GdS von 50 vergleichbar sind, ist die Annahme einer nachhaltigen Beeinträchtigung der Lebensqualität nicht ausgeschlossen. Sie kommt im Einzelfall in Betracht, etwa wenn ihre Auswirkungen aufgrund weiterer Erkrankungen schwerer wiegen oder die Teilhabe am Arbeitsleben oder in einem anderen Bereich besonders einschränken.

Bei multimorbiden Patienten ist auf die Gesamtauswirkungen dieser Erkrankungen abzustellen. Schränken deren sich ggf überschneidende und sich wechselseitig verstärkende Auswirkungen die Lebensqualität in einer einem Einzel-GdS von 50 vergleichbaren Schwere ein, kann grundsätzlich auch vom Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung ausgegangen werden.

  1. Die Genehmigung einer Cannabis-Verordnung setzt weiter voraus, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung entweder nicht zur Verfügung steht oder im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes nicht zur Anwendung kommen kann.

Eine Standardtherapie steht nicht zur Verfügung (§ 31 Abs 6 Satz 1 Nr 1 Buchst a SGB V), (a) wenn es sie generell nicht gibt, (b) sie im konkreten Einzelfall ausscheidet, weil der Versicherte diese nachgewiesenermaßen nicht verträgt oder erhebliche gesundheitliche Risiken bestehen oder (c) diese trotz ordnungsgemäßer Anwendung im Hinblick auf das beim Patienten angestrebte Behandlungsziel ohne Erfolg geblieben ist.

Sofern eine Standardtherapie zur Verfügung steht, bedarf es der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, warum diese unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes nicht zur Anwendung kommen kann (§ 31 Abs 6 Satz Nr 1 Buchst b SGB V). Das Gesetz gesteht dem behandelnden Vertragsarzt insoweit eine Einschätzungsprärogative zu. An die begründete Einschätzung sind aber hohe Anforderungen zu stellen. Dies ergibt sich aus der Geltung des BtMG, die durch § 31 Abs 6 SGB V nicht aufgehoben ist, und daraus, dass die Behandlung mit Cannabis im zivilrechtlichen Arzthaftungsrecht eine Neulandmethode darstellt, sowie aus Gründen des Patientenschutzes. Die begründete Einschätzung muss folgendes beinhalten:

  • Dokumentation des Krankheitszustandes mit bestehenden Funktions- und Fähigkeitseinschränkungen aufgrund eigener Untersuchung des Patienten und ggf Hinzuziehung von Befunden anderer behandelnder Ärzte,

  • Darstellung der mit Cannabis zu behandelnden Erkrankung(en), ihrer Symptome und des angestrebten Behandlungsziels,

  • bereits angewendete Standardbehandlungen, deren Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei aufgetretene Nebenwirkungen,

  • noch verfügbare Standardtherapien, deren zu erwartender Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und die zu erwartenden Nebenwirkungen,

  • Abwägung der Nebenwirkungen einer Standardtherapie mit dem beschriebenen Krankheitszustand und den möglichen schädlichen Auswirkungen einer Therapie mit Cannabis. In die Abwägung einfließen dürfen dabei nur Nebenwirkungen, die das Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Erkrankung erreichen.

KKn und Gerichte dürfen die vom Vertragsarzt abgegebene begründete Einschätzung nur daraufhin überprüfen, ob die erforderlichen Angaben als Grundlage der Abwägung vollständig und inhaltlich nachvollziehbar sind, und das Abwägungsergebnis nicht völlig unplausibel ist. Die dem Vertragsarzt eingeräumte Einschätzungsprärogative schließt eine weitergehende Prüfung des Abwägungsergebnisses auf Richtigkeit aus. Dies gilt auch im Fall eines vorbestehenden Suchtmittelkonsums oder einer vorbestehenden Suchtmittelabhängigkeit. Ob dieser Umstand eine Kontraindikation für die Behandlung mit Cannabis darstellt, ist vom Vertragsarzt im jeweiligen Einzelfall abzuwägen und in der begründeten Einschätzung darzulegen. Er hat sich möglichst genaue Kenntnis vom bisherigen Konsumverhalten, möglichen schädlichen Wirkungen des bisherigen Konsums und einer eventuellen Abhängigkeit zu verschaffen. Auf dieser Grundlage unterfällt es seiner Beurteilung, ob eine Kontraindikation vorliegt oder welche Vorkehrungen gegen einen Missbrauch des verordneten Cannabis zu treffen sind.

Der Versicherte hat die begründete Einschätzung beizubringen. Es ist ihm nicht verwehrt, auch im gerichtlichen Verfahren in Reaktion auf die bisherigen Erkenntnisse eine Ergänzung der bisher abgegebenen Einschätzung durch den Vertragsarzt noch vorzulegen. Eine solche Ergänzung kann aber erst ab diesem Zeitpunkt einen Anspruch auf Genehmigung für die Zukunft begründen.

  1. Schließlich setzt der Anspruch voraus, dass durch die Behandlung mit Cannabis eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbar positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht (Prognose).

Die Erfolgsaussicht muss sich auf die ursächliche Behandlung der schwerwiegenden Erkrankung oder auf besonders schwere Symptome bzw Auswirkungen der schwerwiegenden Erkrankung oder Erkrankungen beziehen. Besonders schwer sind Symptome bzw Auswirkungen bereits dann, wenn sie das Bild der schwerwiegenden Erkrankung prägen, ohne dass sie selbst einen GdS von 50 erreichen müssen. In der Gesetzesbegründung wird hierzu die Behandlung von Appetitlosigkeit und Übelkeit bei Krebserkrankung mit Chemotherapie als Beispiel genannt.

An die Prognose sind keine hohen Anforderungen zu stellen. Ausreichend ist, dass im Hinblick auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome nach wissenschaftlichen Maßstäben objektivierbare Erkenntnisse vorliegen, dass die Behandlung im Ergebnis mehr nutzt als schadet. Dies können Unterlagen und Nachweise der Evidenzstufen IV und V (2. Kap § 11 Abs 2 Satz 1 Nr 2 der Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses) sein. Dazu gehören auch Fallserien und Einzelfallberichte. Dies gilt ‑ anders als im Rahmen von § 2 Abs 1a SGB V ‑ unabhängig von der Schwere der Erkrankung.

  1. Liegen die vorgenannten Tatbestandsvoraussetzungen vor, darf die KK die Genehmigung der Verordnung nur in begründeten Ausnahmefällen verweigern. Hierfür ist sie darlegungs- und beweispflichtig. Die dem Vertragsarzt eingeräumte Einschätzungsprärogative zur Unanwendbarkeit einer Standardtherapie darf hierbei nicht unterlaufen werden. In Betracht kommen deshalb in erster Linie nichtmedizinische Gründe, etwa die unbefugte Weitergabe des verordneten Cannabis an Dritte. Demgegenüber begründen ein Vorkonsum und eine Cannabisabhängigkeit regelmäßig keinen solchen Ausnahmefall.

  2. Bei der Auswahl der Darreichungsform und der Verordnungsmenge hat der Vertragsarzt das allgemeine Wirtschaftlichkeitsgebot zu beachten. Insoweit steht ihm keine Einschätzungsprärogative zu. Bei voraussichtlich gleicher Geeignetheit von Cannabisblüten, Cannabisextrakten und Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon besteht nur ein Anspruch auf Versorgung mit dem kostengünstigsten Mittel. Die KK ist berechtigt, trotz Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen die Genehmigung der vom Vertragsarzt beabsichtigten Verordnung zu verweigern und auf eine günstigere, voraussichtlich gleich geeignete Darreichungsform zu verweisen

Der Senat hat die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen. Das LSG ist davon ausgegangen, die Behandlung mit Cannabis müsse ultima ratio sein, so dass das Ausschöpfen aller verfügbaren Therapiealternativen Voraussetzung der Genehmigung sei. Es hat deshalb den Anspruch verneint. Dem Vertragsarzt steht jedoch eine Einschätzungsprärogative zu. Ob es sich bei der vom LSG festgestellten Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung des Klägers um eine schwerwiegende Erkrankung handelt, hängt ua von der Schwere der dadurch verursachten sozialen Anpassungsschwierigkeiten ab. Maßgebend hierfür ist der Förder- und Unterstützungsbedarf für die Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt, in das öffentliche Leben und das häusliche Leben. Hierzu und zu den weiteren Anspruchsvoraussetzungen fehlen Feststellungen des LSG. Sollte im wiedereröffneten Berufungsverfahren ein Genehmigungsanspruch in Betracht kommen, stellt die festgestellte Cannabisabhängigkeit keinen begründeten Ausnahmefall dar.

Wissenschaftliche Stellungnahme: Cannabisblüten versus -extrakte

In einer Stellungnahme setzt sich Dr. Franjo Grotenhermen, Leiter des Zentrums für Cannabismedizin und Geschäftsführer der ACM, mit der wiederholt geäußerten Behauptung auseinander, eine Behandlung mit standardisierten Cannabisextrakten sei aus medizinischer und ökonomischer Sicht einer Behandlung mit inhalierten Cannabisblüten vorzuziehen. In der Zusammenfassung heißt es:

„1. Es gibt keine neuen pharmakologischen Erkenntnisse, die einen Vorrang der Verschreibung und Kostenübernahme für die Therapie mit Cannabisextrakten vor der Therapie mit Cannabisblüten begründen könnten. Im Gegenteil: Die seit langen gut bekannte systemische Bioverfügbarkeit sowie die Preise von Dronabinol (THC) in Cannabisextrakten und Cannabisblüten legen nahe, dass eine Therapie mit Cannabisblüten im Allgemeinen wirtschaftlicher ist als eine Therapie mit Cannabisextrakten. Bisher wurden keine wissenschaftlichen Daten vorgelegt, die das Gegenteil nahelegen.

  1. Die Inhalation von Cannabisblüten stellt per definitionem keine Herstellung eines Betäubungsmittels dar. Es gibt viele klinische Studien, in denen inhaliertes Cannabis verwendet wurde. Es gibt keine Hinweise darauf, dass diese Form der Einnahme zu Unwägbarkeiten führt. Im Gegenteil: Da die systemische Bioverfügbarkeit nach der oralen Einnahme starken interindividuellen und auch intraindividuellen Schwankungen unterliegt sowie mit einem verzögerten Wirkungseintritt verbunden ist, ist vor allem die orale Aufnahme mit Unwägbarkeiten verbunden. Eine präzise Dosierung ist mit oralen Präparaten schwerer möglich als mit der Inhalation, denn bei der Inhalation tritt die Wirkung innerhalb von wenigen Sekunden und Minuten ein, sodass Patient:innen die Dosis gut titrieren können.

  2. Die Risiken des Cannabisrauchens werden von Seiten der Krankenkasse als inhärente Risiken der inhalativen Verwendung von Cannabis eingestuft. Wie beim Konsum anderer Substanzen müssen jedoch die Risiken, die durch eine inhärent unsichere Verabreichungsmethode verursacht werden, von den Risiken der Substanz selbst unterschieden werden. So können beispielsweise die Risiken des gemeinsamen Gebrauchs von Nadeln oder einer Überdosierung in einem illegalen Kontext nicht als Argument gegen den Einsatz von Opioiden in der Schmerztherapie angeführt werden. Selbstverständlich sollte die Inhalation mittels Vaporizer (Verdampfer) dem Rauchen vorgezogen werden.

  3. Dronabinol-Plasmaspiegel korrelieren nicht mit der Konzentration am Wirkort, zum Beispiel im Zentralnervensystem. Ein „therapeutisch wünschenswerten Wert“ im Blutplasma ist nicht bekannt.

  4. Es gibt keine Studien, die zeigen, dass das Missbrauchspotenzial von Dronabinol nach inhalativer Einnahme größer ist als nach oraler Einnahme oder umgekehrt.

  5. Da die Wirksamkeit von Dronabinol nach oraler Einnahme und nach der Inhalation aufgrund seiner systemischen Bioverfügbarkeit und der erhöhten Bildung des primären Metaboliten 11-Hydroxy-THC, der ähnliche pharmakologische Wirkungen entfaltet wie Dronabinol, etwa gleich stark ist – bei allerdings großer interindividueller Variabilität – muss es andere Gründe als die Wirksamkeit geben, warum nach Ergebnissen der (nicht repräsentativen) Begleiterhebung die mittlere Dronabinol-Dosis bei Patient:innen mit einer Blütentherapie deutlich über jener bei oraler Therapie liegt. Die Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin (ACM) hat in ihrer Analyse der Begleithebung einige mögliche Erklärungen ausgeführt.

  6. Nach der oralen Einnahme wird zwar eine definierte Wirkstoffmenge aufgenommen. Allerdings ist die aufgenommene Wirkstoffmenge nur einer von mehreren Einflussparametern für die Wirkstärke, die wesentlich durch Magenfüllung und individuell variabler Metabolisierung in der Leber beeinflusst wird. Die Vorstellung, die Aufnahme einer definierten Menge führe auch zu einer definierten und reproduzierbaren Wirkstärke ist eine Illusion.

  7. Bei einer Umstellung einer Applikationsart auf die andere sind im Durchschnitt gleich große Mengen an oralem und inhalierten Dronabinol gleich gut wirksam.“

Presseschau: Medizinalcannabis: Fachverbände sehen weiteren Reformbedarf (Deutsche Apotheker Zeitung)

ACM und SCM haben zusammen mit anderen Verbänden eine Stellungnahme zu notwendigen Verbesserungen bei der Therapie mit Cannabis-Arzneimitteln veröffentlicht. Diese wurde von der Deutschen Apotheker Zeitung aufgegriffen.

Medizinalcannabis: Fachverbände sehen weiteren Reformbedarf

Vergangene Woche hat der G-BA seinen Beschluss zur Aufnahme von Medizinalcannabis in die Arzneimittel-Richtlinie getroffen. Er fiel moderater aus als einige Fachverbände, darunter der Verband der Cannabis versorgenden Apotheken, befürchtet hatten. Vom Tisch ist etwa die Idee, nur noch Fachärzte sollten Medizinalcannabis verordnen dürfen. Das sorgt zwar für eine gewisse Erleichterung. Nachbesserungsbedarf und vor allem die Notwendigkeit weiterer Reformen sehen die Verbände dennoch.

Auch wenn Medizinalcannabis seit nunmehr sechs Jahren Kassenleistung ist – das Thema sorgt nach wie vor für kontroverse Diskussionen. Das zeigte sich zuletzt in einem Stellungnahmeverfahren des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), bei dem es um die Detailregelungen zur Verordnung von Medizinalcannabis in der Arzneimittel-Richtlinie ging. Die vom G-BA vorgelegte Beschlussvorlage rief bei Fachverbänden einigen Widerspruch hervor. Acht von ihnen, darunter der Verband der Cannabis versorgenden Apotheken (VCA), der Bund Deutscher Cannabis-Patienten (BDCan), die Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin (ACM), und der Branchenverband Cannabiswirtschaft (BvCW), machten ihre Kritikpunkte in einer gemeinsamen Stellungnahme deutlich.

Vor allem die Vorschläge der Kassenseite ließen sie fürchten, dass sich die Patientenversorgung mit den neuen Regelungen verschlechtern würde. So fand sich in der Beschlussvorlage der Vorstoß, dass nur noch bestimmte Fachärzte Medizinalcannabis verordnen können sollten. Zudem sollte für Blüten eine Nachrangigkeit gegenüber „Cannabisarzneimitteln“ formuliert werden („Vor einer Verordnung von Cannabis in Form von getrockneten Blüten ist zu prüfen, ob andere Cannabisarzneimittel zur Verfügung stehen, die zur Behandlung geeignet sind“). Überdies sollte die Verordnung von Blüten „besonders zu begründen“ sein.

Vergangene Woche fiel nun nach einer weiteren Diskussion im Plenum die Entscheidung des G-BA – einstimmig sowie mit Zustimmung der Patientenvertretung. Der G-BA-Vorsitzende Josef Hecken betonte, dass man sich damit exakt im vorgegeben gesetzlichen Rahmen halte und keine zusätzlichen Anforderungen stelle. Damit hatte auch der vorgeschlagene Facharztvorbehalt keine Überlebenschance – er lässt sich aus dem Gesetz nicht herleiten.

Blüten versus Fertigarzneimittel

Gerungen wurde in der Plenumssitzung noch um die Frage, ob Cannabisblüten tatsächlich nur nachrangig zum Zuge kommen sollten. Antje Haas vom GKV-Spitzenverband verwies erneut auf einen Mangel an Standardisierung bei diesen Produkten. Festgelegt habe man nun zwar einen THC-Mindestgehalt für getrocknete Blüten und Extrakte. In der Begleiterhebung des BfArM habe man jedoch festgestellt, dass die Blüten oftmals in Dosierungen Anwendung fänden, die jenseits dessen seien, was man ärztlich verordnen würde. Es gebe nur wenige Vorteile, die für die Verordnung der Blüte als Alternative zum Fertigarzneimittel sprechen, meint Haas. Daher solle den Blüten eine Nachrangigkeit gegenüber den Fertigarzneimitteln eingeräumt werden. Sibylle Steiner von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) erklärte hingegen, den gesetzlichen Vorschriften sei keine Nachrangigkeit zu entnehmen.

Hecken vermittelte: Ein Fertigarzneimittel sei Blüten und Extrakten sicher immer vorzuziehen, wenn es zur Verfügung stehe. Er schlug eine Kompromissformulierung vor, die akzeptiert wurde und nun lautet:

„Vor einer Verordnung von Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten ist zu prüfen, ob andere cannabishaltige Fertigarzneimittel zur Verfügung stehen, die zur Behandlung geeignet sind. Die Verordnung von Cannabis in Form von getrockneten Blüten ist zu begründen.“

Verbände: Gesetz noch dieses Jahr überarbeiten

Die acht Fachverbände, die sich schon im Stellungnahmeverfahren zusammengetan hatten, kommentieren auch den nun gefassten Beschluss gemeinsam. In einer Pressemitteilung würdigen sie, dass sich der G-BA intensiv mit dem wichtigen und komplexen Thema befasst und sich explizit am Gesetzestext orientiert hat. „Der Willen des Gesetzgebers war es, mit dem \’Cannabis als Medizin\‘-Gesetz von 2017 den Zugang zu Medizinalcannabis für Patient:innen mit schwerwiegenden Erkrankungen möglichst unbürokratisch und gleichzeitig sicher zu gestalten. Dem hat der G-BA aus Sicht der Fachverbände Rechnung getragen“.

Mit der oben genannten Formulierung sind sie allerdings nicht zufrieden, da sie unklar bleibe. Die Verbände sehen darin nach wie vor eine generelle Nachrangigkeit der Blüten. Dies werde zusätzlich dadurch verschärft, dass der letzte Satz nur auf die Begründung für die Verordnung der Blüte abziele. „Eine Klarstellung ist hier notwendig, um in der Praxis keine zusätzlichen Hürden zu schaffen“, fordern die Verbände.

Überdies sollte aus ihrer Sicht der gesamte rechtliche Rahmen noch in diesem Jahr vom Gesetzgeber überarbeitet werden, um „für Rechts- und Versorgungssicherheit für die Patient:innen zu sorgen“. Dies sei nach sechs Jahren Erfahrung angebracht. Denn es gebe noch „großen Optimierungsbedarf“. So führe zum Beispiel der Genehmigungsvorbehalt weiterhin zu Ablehnungsquoten von 30 bis 40 Prozent – dabei soll die Ablehnungen laut Gesetz der Ausnahmefall sein.

Die Verbände kündigten an, innerhalb der nächsten Wochen ein Positionspapier mit konkreten Vorschlägen für eine Gesetzesnovellierung zu veröffentlichen.

Der Beschluss des G-BA macht derzeit noch eine Runde im Bundesgesundheitsministerium. Wird er dort nicht beanstandet, tritt er nach Veröffentlichung im Bundesanzeiger in Kraft.

Welche Cannabisprodukte können verordnet werden?

Verordnungsfähig ist medizinisches Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten, sofern sie einen THC-Gehalt von mindestens 0,2 Prozent besitzen. THC (Tetrahydrocannabinol) ist neben Cannabidiol einer der beiden Hauptwirkstoffe der Cannabispflanze. Auch (Rezeptur-)Arzneimittel mit synthetisch hergestellten THC-Derivaten (Wirkstoffe Dronabinol und Nabilon) können verordnet werden.

Für die in Deutschland zugelassenen cannabishaltigen Fertigarzneimittel wie Sativex® und Canemes® greifen die G-BA-Regelungen zu Cannabisprodukten hingegen nur dann, wenn sie außerhalb ihrer zugelassenen Anwendungsgebiete verordnet werden sollen. Bei Verordnung innerhalb ihrer Zulassung sind sie Teil der regulären Arzneimittelversorgung.

Presseschau: Leitlinien zu Cannabis bei Schmerzen und zu Kopfschmerzen: Ihre Meinung ist gefragt! (Ärzte Zeitung)

Die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin hat einen Entwurf für Leitlinien zur Therapie mit Cannabis-Arzneimitteln bei Schmerzen veröffentlicht. Bis Mitte April besteht die Möglichkeit zur Kommentierung.

Leitlinien zu Cannabis bei Schmerzen und zu Kopfschmerzen: Ihre Meinung ist gefragt!

Bis zum 16. April 2023 können Ärztinnen und Ärzte, medizinisches Fachpersonal sowie Patientinnen und Patienten die PraxisLeitlinien „Cannabis in der Schmerzmedizin“ und „Primäre Kopfschmerzerkrankungen“ auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V. (DGS) kommentieren beziehungsweise konsentieren.

Mit der aktualisierten PraxisLeitlinie zu Cannabis in der Schmerztherapie möchte die DGS Behandelnde bei der Verordnung von Cannabinoiden im Alltag unterstützen. Im Sinne einer „best practice“ bietet sie eine Hilfestellung in der Betreuung und Versorgung schwerstkranker Patienten an.

Ebenfalls auf dem neusten Stand gebracht ist die DGS-PraxisLeitlinie zu primären Kopfschmerzen. Sie soll die Versorgung Betroffener verbessern, indem sie Standards der Diagnostik und Therapie gebündelt vermittelt.

Presseschau: Cannabisverordnung: Kleinere Nachbesserungen (Deutsches Ärzteblatt)

Das Deutsche Ärzteblatt hat sich ebenfalls mit dem G-BA-Beschluss befasst.

Cannabisverordnung: Kleinere Nachbesserungen

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat moderate Änderungen bei der Versorgung mit medizinischem Cannabis beschlossen – und war dabei nicht so restriktiv, wie erwartet wurde. Es bleibt bei der Genehmigungspflicht, auf einen Facharztvorbehalt wurde hingegen verzichtet.

Hausärztinnen und Hausärzte dürfen auch weiterhin medizinisches Cannabis verordnen. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat darauf verzichtet, einen Facharztvorbehalt einzuführen, wie er in einem Entwurf zur Beschlussfassung von Ende Oktober als Option aufgeführt worden war. Mehrere Verbände, darunter die Deutsche Medizinal-Cannabis Gesellschaft (DMCG) und die Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin, hatten im Vorfeld gegen die mögliche Einschränkung protestiert.

An die Einführung der Erstattungsfähigkeit von Cannabis als Medizin im März 2017 hatte der Gesetzgeber die Durchführung einer fünfjährigen, nichtinvasiven Begleiterhebung geknüpft und festgelegt, dass der G-BA im Anschluss auf Grundlage von deren Auswertung das Nähere zum zukünftigen Leistungsanspruch regelt.

Streitpunkt Genehmigung

Dass es Reformbedarf gibt, darüber herrscht weitestgehend Einigkeit. Die Frage ist nur: Wer ist dafür zuständig? So waren im Vorfeld der Beschlussfassung Forderungen immer lauter geworden, volle ärztliche Therapiehoheit bei medizinischem Cannabis herzustellen, indem der Genehmigungsvorbehalt aufgehoben wird.

Der gilt ab der ersten Verordnung: Ärzte müssen dann einen Kostenübernahmeantrag bei der Krankenkasse des Patienten stellen, in dem sie nicht nur belegen müssen, dass der Patient bei einer schweren Erkrankung als austherapiert gilt, sondern auch die Evidenz des verordneten Präparats in der jeweiligen Indikation mit Studien belegen. Wurde bereits in einer stationären Behandlung mit der Therapie begonnen, gilt für die Kasse eine Prüffrist von drei Tagen.

Gleiches gilt in der Allgemeinen Ambulanten Palliativversorgung (AAPV). Der G-BA hat zudem eine Erleichterung in der Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung (SAPV) beschlossen: Hier wurde der Genehmigungsvorbehalt ganz aufgehoben. In der AAPV und der SAPV sei zudem von besonderem Vorteil, dass auf einen Facharztvorbehalt verzichtet wurde. Denn hier würden Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner große Teile der Patientenversorgung sicherstellen, betonte der Unparteiische Vorsitzende des G-BA, Josef Hecken, nach dem Beschluss.

Nur die Erstverordnung von Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten sowie ein grundlegender Therapiewechsel stehen nun unter Genehmigungsvorbehalt. Folgeverordnungen, Dosisanpassungen oder der Wechsel zu anderen Blüten oder Extrakten müssen demnach nicht neu genehmigt werden. Hat ein Patient bereits vor Inkrafttreten der neuen Regelungen des G-BA eine Genehmigung erhalten, gilt diese auch weiterhin.

Den Forderungen nach einer völligen Abschaffung des Genehmigungsvorbehalts hatte Hecken allerdings eine klare Absage erteilt: Die allgemeine Genehmigungspflicht sei nämlich gesetzlich festgeschrieben, weshalb es gar nicht in der Kompetenz des G-BA liege, sie abzuschaffen. Das Gremium habe die explizite Aufgabe, das näher zu regeln, was eben nicht im Gesetz steht. Das sei keine Neuigkeit, weshalb er sich wundere, dass Experten im Bundesgesundheitsausschuss sich dahingehend geäußert hätten.

Am Vortag hatte der Bundesgesundheitsausschuss sich mit zwei Anträgen der CDU/CSU sowie der Linken zu medizinischem Cannabis und der Freigabe von Cannabis als Genussmittel befasst. Auch die Union hat dabei in ihrem Antrag gefordert, „die Therapiehoheit von Ärztinnen und Ärzten bei der Verschreibung von medizinischen Cannabisprodukten (…) zu stärken und durch eine Überprüfung des langwierigen Genehmigungsverfahrens die gesetzlichen Krankenkassen sowie den Medizinischen Dienst zu entlasten“.

Befürworter des Genehmigungsvorbehalts führen eine erhöhte Missbrauchsgefahr bei mangelnder Kontrolle durch die Kassen ins Feld. Johannes Ertelt, Vorstandsvorsitzender des Verbands der Cannabis versorgenden Apotheken (VCA), kritisierte demgegenüber im Ausschuss, dass das Verfahren hohe bürokratische Zugangshürden zu einer angemessenen Therapie für zumeist schwer kranke Patienten bedeute. Rund jeder dritte Antrag würde von den Krankenkassen abgewiesen, oftmals mit fragwürdigen Argumenten, die einer gerichtlichen Überprüfung nicht standhalten. Das Widerspruchsverfahren sei jedoch aufwendig, der Rechtsweg umso mehr. Es brauche daher Erleichterungen beim Zugang.

Der als Sachverständiger geladene Prof. Dr. med. Johannes Horlemann, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS), hatte hingegen von seinen positiven Erfahrungen ohne Genehmigungsanträge berichtet: Ein Selektivvertrag der DGS mit der AOK Rheinland/Hamburg ermöglicht Ärzten seit dem Sommer vergangenen Jahres die Verordnung von Cannabis ohne Genehmigungsvorbehalt. Allerdings gilt das nur für Schmerzpatienten und für Ärzte, die vorher eine zwanzigstündige Weiterbildung absolviert haben. Solche Vertragsformen in Kombination mit Weiterbildungen könnten Missbrauch auch dann verhindern, wenn der Genehmigungsvorbehalt fällt, erklärte Horlemann.

Blüten nur zweite Wahl

Ebenfalls umstritten war die Frage der Darreichungsform. „Vor einer Verordnung von Cannabis in Form von getrockneten Blüten ist zu prüfen, ob andere Cannabisarzneimittel zur Verfügung stehen, die zur Behandlung geeignet sind. Die Verordnung von Cannabis in Form von getrockneten Blüten ist besonders zu begründen“, heißt es dazu im Beschlussentwurf des G-BA.

„Wir plädieren dafür, den Blüten einen begründungsbedürftigen Nachrang in der Arzneimittelrichtlinie zu geben“, erklärte Dr. med. Antje Haas, Leiterin der Abteilung Arznei- und Heilmittel des GKV-Spitzenverbands bei der Beschlussfassung im Plenum. „Wir sehen diese Nachrangigkeit nicht durch das Gesetz gegeben, sondern vielmehr eine Gleichrangigkeit“, erwiderte Dr. med. Sibylle Steiner aus dem Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Ein Kompromiss, den auch ihr Vorstandskollege Dr. med. Stephan Hofmeister begrüßte, bestand darin, die Formulierung zu „cannabishaltige Fertigarzneimitteln“ zu präzisieren. Das sei vertretbar, da aus ärztlicher Sicht bei einem Fertigarzneimittel immer mehr Verlässlichkeit über die genaue Zusammensetzung der Inhaltsstoffe herrsche als bei einem Naturprodukt wie Cannabisblüten, erklärte Hofmeister.

Hecken zeigte sich im Anschluss zufrieden mit den Neuerungen. Die gefundenen Regelungen würden den vom Gesetzgeber gegebenen Handlungsrahmen voll ausschöpfen, seien fachlich ausgewogen und ein sehr gut gangbarer Weg, um eine gute und rechtssichere Versorgung von Patienten mit einer schwerwiegenden Erkrankung sicherzustellen, sagte er. Tobias Lau

Der steinige Weg zur Freigabe von Cannabis als Genussmittel

Parallel zur Nachjustierung bei medizinischem Cannabis läuft der Prozess zur Freigabe von Cannabis als Genussmittel weiter. Trotz europa- und völkerrechtlicher Bedenken hält Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) an dem Projekt fest.

„In Deutschland sehe ich beim Gesetzesvorhaben Cannabislegalisierung weniger Probleme, aber alle schauen nun nach Brüssel“, sagt der Rechtswissenschaftler und SPD-Europaabgeordnete René Repasi dem Deutschen Ärzteblatt. Insbesondere das Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) stehe den Plänen entgegen: Da es im Schengenraum keine Grenzkontrollen mehr gibt, verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten, alle notwendigen Maßnahmen zu treffen, um Betäubungsmittelhandel zu unterbinden. Dabei wird auch Cannabis explizit aufgeführt. Hinzu komme ein EU-Rahmenbeschluss von 2004, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, Drogenhandel unter Strafe zu stellen.

Repasi sieht dennoch eine Möglichkeit: „Die Kommission könnte ein Gesetzgebungsverfahren zur EU-weiten Legalisierung von Cannabis einleiten und damit signalisieren, dass sie ihren Standpunkt bei dem Thema geändert hat“, erklärt er. „Das würde ihr politisch ermöglichen, den Verzicht auf ein Vertragsverletzungsverfahren nach einer erfolgten deutschen Gesetzgebung zu rechtfertigen. Allerdings müsste die Kommission dazu selbst den politischen Willen aufbringen.“

Lauterbach hatte jüngst erklärt, nach Rücksprache mit der EU-Kommission Anpassungen an den geplanten Regelungen vorgenommen zu haben. Wie die aussehen, verriet er nicht, kündigte aber an, demnächst einen Vorschlag vorlegen zu wollen, der sowohl europarechtskonform ist als auch die Ziele der Bundesregierung – allen voran Qualitätskontrolle und Kinder- und Jugendschutz – erfülle.

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