Das Cannabis-Dilemma: Ein breites therapeutisches Potenzial bei einer bisher begrenzten klinischen Forschung

Von Dr. med. Franjo Grotenhermen

Erst in den 1930er und 1940er Jahren wurde die chemische Struktur der ersten Phytocannabinoide, wie beispielsweise Cannabidiol, erfolgreich charakterisiert. Aufgrund der Vielzahl der Cannabinoide mit sehr ähnlichen chemischen Strukturen und ihrer Fettlöslichkeit waren moderne Trennmethoden erforderlich, um ihre exakte chemische Struktur aufklären zu können. Es dauerte bis zum Jahr 1964, bevor Delta-9-THC, das im Wesentlichen für die psychischen und die meisten übrigen pharmakologischen Wirkungen der Cannabispflanze verantwortlich ist, stereochemisch definiert und synthetisiert wurde.

Die chemische Struktur von Morphium und anderen Opiaten, Acetylsalicylsäure (Aspirin), eine synthetische Variante der natürlich vorkommenden Salizylsäure und anderer medizinisch nutzbarer Pflanzenwirkstoffe wurden dagegen bereits im 19. Jahrhundert identifiziert. Wäre es gelungen, die Struktur von THC wesentlich früher aufzuklären, wären Cannabis, einzelne Cannabinoide und synthetische Cannabinoide heute vermutlich ebenfalls zugelassene Medikamente. Cannabis und die Cannabinoide wären aufgrund der langen positiven Erfahrungen bei vielen Erkrankungen in die moderne Medizin übernommen worden, so wie das für Morphium der Fall war. Stattdessen nahm die Verwendung von Cannabisprodukten, deren Inhaltsstoffe nicht standardisiert werden konnten, nach ihrer Blütezeit zwischen 1880 und 1900 in Europa und Nordamerika rapide ab. Die meisten Ärzte wollten zunehmend nicht mehr mit nicht standardisierten Pflanzenprodukten arbeiten, sondern nur noch mit solchen, deren Inhaltsstoffe genau bekannt waren sowie mit definierten synthetischen Präparaten.

Für die wichtigsten Anwendungsgebiete der Cannabispräparate wurden noch vor Beginn des 20. Jahrhunderts neue spezifische Arzneimittel eingeführt. Zur Behandlung der Infektionskrankheiten (Cholera, Tetanus etc.) wurden Impfstoffe entwickelt, die nicht nur wie Cannabis die Symptomatik bekämpften, sondern Schutz vor Infektion boten. Bakterielle Erkrankungen wie die Gonorrhö, die häufig mit Cannabis therapiert wurden, konnten etwas später durch das Aufkommen der Chemotherapeutika (bereits 1910 wurde das von Paul Ehrlich entdeckte Salvarsan in die Therapie eingeführt) therapiert werden. Auch als Schlaf- und Beruhigungsmittel bekam Haschisch Konkurrenz in Form chemischer Substanzen wie Chloralhydrat, Paraldehyd, Sulfonal, Barbituraten und Bromural. Anders als die Vielzahl von Opiatmedikamenten wurden die Cannabispräparate auch als Analgetika bald von chemischen Mitteln verdrängt. Große Bedeutung erlangten schon kurz nach der Einführung das Antipyrin und das Aspirin.

Heute werden Cannabis und einzelne Cannabinoide wie neue Medikamente behandelt, so als kämen sie frisch aus dem Labor eines pharmazeutischen Unternehmens. Sie müssen aufwändige klinische Studien durchlaufen, die medizinisch verwendete Substanzen vor 50 oder 100 Jahren nicht durchlaufen mussten. Damals reichte es, wenn sich Medikamente über Jahrzehnte in der Praxis bewährt hatten, um allgemein anerkannt zu sein.

Heute stehen wir daher vor dem “Cannabis-Dilemma”. Einerseits berichten Patienten und Ärzte von einer Vielzahl positiver Wirkungen bei schwer kranken Personen, die an vielen unterschiedlichen Erkrankungen leiden, darunter Schmerzerkrankungen unterschiedlichster Art von Phantomschmerzen bis Migräne, chronisch-entzündliche Erkrankungen wie Colitis ulcerosa und Rheuma, psychiatrische Erkrankungen wie Zwangsstörungen, Depressionen und posttraumatische Belastungsstörung, neurologische Erkrankungen wie Multiple Sklerose und Tourette-Syndrom, Appetitlosigkeit und Übelkeit aufgrund unterschiedlicher Ursachen und viele andere Erkrankungen mehr. Andererseits ist die wissenschaftliche Datenbasis, so wie man sie heute für moderne Medikamente verlangt, bisher nur für wenige Erkrankungen vorhanden, insbesondere bei Spastik im Rahmen einer multiplen Sklerose, bestimmten chronischen Schmerzen, Übelkeit bei Krebschemotherapie sowie Appetitlosigkeit bei HIV/Aids. Die Ärzte und die Politik gehen in verschiedenen Ländern unterschiedliche Wege, um mit diesem Dilemma umzugehen. Einerseits darf man Patienten eine wirksame Therapie nicht vorenthalten, so dass Patienten in vielen Ländern ein legaler Zugang zu solchen Präparaten eröffnet wurde. Andererseits sollen Medikamente heute eine strenge Prüfung durchlaufen, so dass die Forschung in den vergangenen Jahren intensiviert wurde.

Allerdings gibt es einen erheblichen Unterschied zwischen neuen Molekülen aus den Laboren der pharmazeutischen Industrie und Cannabisprodukten. Die möglichen Nebenwirkungen von THC und Cannabis sind in den letzten 50 Jahren gut untersucht worden. Mögliche Risiken sind bekannt und können daher gut gegen den möglichen Nutzen einer Therapie abgeschätzt werden. Dieser Nutzen zeigt sich bei Cannabisprodukten zudem häufig und reproduzierbar innerhalb kurzer Zeit nach der Einnahme: eine Abnahme der Schmerzen, eine Verbesserung des Appetits, eine verbesserte Stimmung, eine Reduzierung von Entzündungen, eine Reduzierung einer Hyperaktivität oder Muskelkrämpfen, et cetera.

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